Der Piazza del Campo in Siena Kollage: Getty Images/Occhetto & Nectarina via canva.com
Von unserer Redaktion
Was auf den ersten Blick wie ein folkloristisches Volksfest wirkt, ist ein jahrhundertealter, erbitterter Wettstreit zwischen den Stadtteilen.
Stellen Sie sich vor, Sie stehen auf einem mittelalterlichen Platz, eng umringt von 60.000 anderen Menschen, die die Luft vibrieren lassen. Dann ein Ruck, ein Aufschrei, ein wildes Rennen beginnt – ohne Sattel, ohne Kompromisse, ohne Gnade. Willkommen beim Palio di Siena, eines der traditionsgeladensten Spektakel Italiens. Schon im 13. Jahrhundert fanden hier – zu Ehren der Madonna – Rennen durch die Stadt statt. Weil die über die Jahrhunderte ausuferte, hat man die Strecke auf die Piazza del Campo verlegt. Im Jahr 1656 gab es hier das erste dokumentierte Rennen.

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1. Was ist der Palio?
Der Palio di Siena ist kein gewöhnliches Pferderennen. Zweimal im Jahr – am 2. Juli und am 16. August – verwandelt sich die Piazza del Campo im Herzen Sienas in eine ovale Arena. Dann treten zehn der insgesamt 17 Contraden, also Stadtteile Sienas, gegeneinander an.
Das eigentliche Rennen dauert gerade einmal 100 Sekunden, doch die Vorbereitungen und Emotionen ziehen sich über Wochen. Das Ziel: den „Palio“ zu gewinnen – ein kunstvoll gestaltetes Seidenbanner mit religiösen und heraldischen Motiven.
2. Woher kommt der Name?
„Palio“ leitet sich vom lateinischen pallium ab – ein Tuch oder Mantel, später auch eine Standarte. Und genau das ist der Preis: eine prunkvolle Fahne, die jedes Jahr neu entworfen wird. Sie wird nicht nur als Trophäe überreicht, sondern als heiliger Schatz verehrt und im Gemeindehaus der siegreichen Contrada aufbewahrt.

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3. Die Contraden – mehr als nur Stadtteile
In Siena ist man nicht einfach Einwohner – man ist contradaiolo. Und das ein Leben lang. Die 17 Contraden sind Nachbarschaften mit eigener Kirche, eigenem Museum, eigenen Farben und Wappen – von der „Oca“ (Gans) bis zur „Tartuca“ (Schildkröte), vom „Leocorno“ (Einhorn) bis zur „Selva“ (Wald). Manche dieser Contraden sind sich spinnefeind – jahrhundertealte Rivalitäten, die beim Palio neu auflodern.
4. Wer darf mitrennen?
Beim Palio dürfen pro Rennen zehn Contraden antreten: Sieben, die im Vorjahr pausieren mussten, und drei weitere per Los. So entsteht eine Rotation – und ein echter Anreiz, alles zu geben. Denn ein sogenannter „Cappotto“, also zwei Siege im selben Jahr, ist die Krönung. Seit 1933 gab es nur 17 solcher Doppelsiege – der letzte 2016 durch die „Lupa“.

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5. Die Pferde – gelost, geliebt, gefürchtet
Die Pferde – sogenannte barberi, meist Halbblüter – gehören keiner Contrada. Eine Kommission wählt 10 von rund 60 Pferden aus, nach mehreren Testrennen (batterie). Wer welches Pferd bekommt, entscheidet das Los – was den Lärmpegel bei der „Tratta“ ins Unermessliche treibt. Gutes Pferd? Ekstase. Schlechtes Los? Tränen. Jedes Tier wird dann von einem Reitknecht (barbaresco) rund um die Uhr bewacht und vor dem Rennen gesegnet.
6. Die Jockeys – gemietet, nicht geliebt
Auch die fantini, die Reiter, gehören keiner Contrada. Sie werden angeheuert – mit teils horrenden Summen. Das bedeutet aber auch: Intrigen, Bestechungen, Verrat – alles möglich. Manchmal ist es wichtiger, einen Erzrivalen zu blockieren als selbst zu gewinnen.
7. Die Regeln – oder deren kreative Auslegung
Die Strecke: ein ca. 300 Meter langer Rundkurs auf der Piazza del Campo. Drei Runden, knapp über eine Minute. Reiter dürfen sich gegenseitig schlagen, mit dem Ochsenziemer (nerbo) traktieren, blockieren, ausbremsen. Alles ist erlaubt – außer dem aktiven Herunterziehen. Passiert aber trotzdem. Sieger ist das Pferd, nicht der Reiter – sogar ein „scosso“ (Pferd ohne Reiter) kann gewinnen, sofern es das Diadem der Contrade nicht verliert.
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8. Der Einzug – mehr Theater als Sport
Bevor es losgeht, gibt es eine aufwendige Parade: die „Passeggiata Storica“. Mittelalterliche Kostüme, Trommler, Fahnenschwenker – ein Fest für Augen und Ohren. Höhepunkt: der Einzug der teilnehmenden Contraden, ihrer Pferde und Reiter. Ein Wagen mit Ochsen bringt den Palio auf den Platz. Kurz danach: absolute Stille vor dem Start – ein Moment elektrischer Spannung.
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9. Sieg und Niederlage – eine Frage der Ehre
Nach dem Rennen? Ausnahmezustand. Der Sieger wird gefeiert wie ein Heiliger, oft tagelang. Der Palio wird durch die Straßen getragen, die Contrada jubelt. Und der Verlierer? Der Zweite – gilt als der eigentliche Verlierer, schlimmer als der Letzte. Eine Logik, die nur in Siena funktioniert – und genau das macht den Reiz aus.
10. Ein Spektakel mit Schattenseiten
So traditionsreich der Palio ist – er steht auch in der Kritik. Tierschützer bemängeln, dass seit 1970 rund 50 Pferde zu Tode gekommen sind. Die engen Kurven, das Tempo, der harte Boden – ein gefährliches Gemisch. Zwar werden inzwischen einige Sicherheitsmaßnahmen wie gepolsterte Mauern ergriffen, doch die Debatte bleibt.
Glossar zum Palio di Siena: Die wichtigsten Begriffe kurz erklärt
- Contrada: ein Stadtteil Sienas – mit eigenen Farben, Symbolen, Rivalitäten und jahrhundertealter Geschichte. Insgesamt gibt es heute 17 aktive Contraden.
- Contradaiolo / -a: ein Mitglied einer Contrada. Man wird hineingeboren oder durch „Taufe“ aufgenommen und bleibt ein Leben lang Teil dieser Gemeinschaft.
- Palio: bezeichnet sowohl das gesamte Rennen als auch die zu gewinnende Standarte – ein kunstvolles Seidenbanner mit religiösen und heraldischen Motiven.
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- Barbero: das teilnehmende Rennpferd einer Contrada. Es wird vor dem Rennen in der Kirche gesegnet und rund um die Uhr bewacht.
- Barbaresco: der Reitknecht, der das Barbero betreut, schützt und zum Einzug führt.
- Fantino: der Jockey – meist professionell engagiert, oft mit zweifelhaftem Ruf. Fantini stehen unter großem Druck und sind gelegentlich bestechlich.
- Tratta: die Auslosung, welches Pferd welcher Contrada zugelost wird – ein emotionales Highlight im Vorfeld.

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- Mossa: der Startbereich. Erst wenn alle Pferde korrekt in der Mossa stehen, darf das Rennen gestartet werden. Das sorgt oft für endlose Verzögerungen und Fehlstarts.
- Canapo: das Startseil, das nach hinten fällt, sobald der zehnte Reiter in die Startzone einreitet – erst dann beginnt das Rennen.
- Scosso: ein Reitpferd, das seinen Reiter verloren hat. Es kann trotzdem gewinnen – sofern es noch das Stirnband seiner Contrada trägt.
- Cappotto: ein seltener Doppelsieg – wenn eine Contrada sowohl das Rennen im Juli als auch im August gewinnt. Gilt als legendärer Triumph.
- Nerbo: der Ochsenziemer, den die Fantini beim Rennen einsetzen dürfen – gegen Pferde und Gegner. Nicht schön, aber erlaubt.